25.12.2023
TOBIAS LEHMKUHL: Der doppelte Erich – Kästner im Dritten Reich

Der Autor Tobias Lehmkuhl, geboren 1976 in Georgsmarienhütte, einer Stadt in Niedersachsen, studierte bis 2002 in Bonn, Barcelona und Berlin Komparatistik und Romanistik, ist Autor und Literaturkritiker. Er lebt in Berlin als freier Journalist, schreibt Reportagen, Essays und Kritiken unter anderem für Die Zeit, Süddeutsche Zeitung und Features für Deutschlandradio Kultur. Mit dem „Berliner Preis für Literaturkritik“ wurde Lehmkuhl 2017 ausgezeichnet. „Der doppelte Erich – Kästner im Dritten Reich“ ist sein 4. Buch, das bei Rowohlt erscheint.
Nach der Befreiung vom Faschismus am 8. Mai 1945 setzte sofort eine Diskussion über Personen ein, die Deutschland von 1933 bis 1945 verlassen hatten, nun aus ihrem Exil zurückkehrten. Häufig wurden sie diffamiert, wie es der Bayer und Vorsitzende der CSU Franz-Josef Strauss mit Willy Brandt tat, dem er sein Exil in Norwegen vorhielt. Mit dabei auch der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer, der sich nicht scheute, Hans Josef Maria Globke, Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, ab September 1949 im Bundeskanzleramt zu beschäftigen.

Der Schriftsteller Erich Kästner begann seine publizistische Karriere in der Weimarer Republik mit antimilitaristischen Gedichten, Glossen und Essays. Er war Mitarbeiter des „Berliner Tageblatt“, „Vossische Zeitung“ und „Die Weltbühne“. Sein erstes Kinderbuch „Emil und die Detektive“ erschien im Oktober1929. Bis 1933 kamen die Titel „Pünktchen und Anton“ 1931 und 1933 „Das fliegende Klassenzimmer“ hinzu. Die Deutschen Verlags-Anstalt veröffentlichte 1931 den Roman „Fabian – Die Geschichte eines Moralisten“, der fast im Stil von filmischer Technik geschrieben. Als einer der nazikritischen Schriftsteller emigrierte Erich Kästner am 30. Januar 1933 nicht, reiste für einige Tage ins italienische Meran und in die Schweiz, kehrte aber nach Berlin zurück. Am 10. Mai 1933 wurden in Berlin auf dem heutigen Bebelplatz gegenüber der Humboldt-Universität zu Berlin in der „Aktion wider den undeutschen Geist“ auf Weisung des NS-Regimes Bücher verbrannt. Darunter Bücher der Autoren Ernst Toller, Heinrich Mann, Irmgard Keun auch Erich Kästner. Aber Kästner blieb in Deutschland, versuchte in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden, was ihm nicht gelang. Er galt den Nazis als linker Antimilitarist, hatte Publikationsverbot. Trotzdem gelingt es ihm über die Runden zu kommen, nimmt Auftragsarbeiten an, arbeitet für die UFA. Hier schreibt er das Drehbuch des Film „Münchhausen“. Aus Anlass des 25-jährigen Bestehens der Ufa-Filmstudios wurde dieser Film vom Reichspropagandaminister Joseph Goebbels persönlich in Auftrag gegeben. Die Dreharbeiten begannen am 13. April 1942 in den Babelsberger Studios in Potsdam. Gedreht wird mit dem neuen Filmmaterial Agfacolor. Letzter Drehtag ist der 16. Dezember 1942. Die Produktionskosten betragen rund 6,6 Millionen Reichsmark, geplant waren 4,57 Millionen Reichsmark. Der von Nazis verfemte Kästner schreibt unter dem Pseudonym „Berthold Bürger“ das Drehbuch, steht aber nicht im Vorspann des Films. Aufgrund der propagandistischen Bedeutung des Films von Goebbels bekam Kästner 115000 Reichsmark, damit konnte der Autor gut leben. Das Honorar für den Hauptdarsteller, auch kein Freund der Nationalsozialisten, Hans Albers, seine Gage betrug 360.000 Reichsmark. Warum Erich Kästner in Deutschland geblieben ist, das ist wohl mit seiner engen Bindung zur Mutter zu suchen.

Auch nach dem Ende des Faschismus konnte er schnell wieder Fuß fassen. So übernahm Erich Kästner ab Herbst 1945 die Leitung des Feuilletons der „Neuen Zeitung“ in München, die von den Amerikanern in ihren Besatzungszonen Bayern, Bremen und Bremerhaven und der US-Zone in Berlin zur Demokratisierung herausgegeben wurde. Dass Kästner ein Nazi war, belegt Tobias Lehmkuhl in seinem Buch nicht. Er hat sich aus Opportunismus dem System angepasst, konnte arbeiten und leben. Das Buch liefert einen umfangreichen Hintergrund über Erich Kästner in der Weimarer Republik, dem Hitler Faschismus und dem Neuanfang. Lesenswert nicht nur Kästners Bücher, auch der Film „Münchhausen“ mit Hans Albers, der kein Freund der Nazis war, blieb wie Erich Kästner im Land. Ich habe den wunderbaren Film „Münchhausen“ am Ende der 40er Jahre als Schüler im Thalia-Kino an der Grindelallee in Hamburg gesehen. Das Kino, häufig Lichtspielhaus genannt, war zur Hälfte eine Ruine, durch Bomben zerstört.
khw


TOBIAS LEHMKUHL: Der doppelte Erich – Kästner im Dritten Reich

rowohlt Berlin, Berlin 2023
304 Seiten – einige sw-Fotos – 24,00 EUR