05.10.2021
MARTIN PUCHNER: Die Sprache der Vagabunden
Eine Geschichte des Rotwelsch und das Geheimnis meiner Familie

Der Autor Martin Puchner, 1969 in Erlangen geboren, ist ein deutsch/amerikanischer Literaturwissenschaftler. Mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes studierte er an der Universität Konstanz, der Universität Bologna und in den USA an der University of California in Santa Barbara. Bis 2009 war er Mitarbeiter der Columbia University, heute lehrt er Englisch und vergleichende Literaturwissenschaft an der Harvard University, die ihn bereits 1998 promovierte. Seit 2011 ist Puchner Mitglied der Academia Europaea, eine regierungsunabhängige wissenschaftliche Gesellschaft.

Das Rotwelsch oder das Rotwelsche ist ein Sammelbegriff für sondersprachliche Soziolekte gesellschaftlicher Randgruppen auf der Basis des Deutschen. Seit dem Mittelalter waren es besonders Bettlern, den Vaganten, Vertretern der unehrlichen Berufe und in der kriminellen Subkultur sind es heute häufig noch. Um 1510 erschien das gedruckte »Liber vagatorum« als früheste Quelle für das Rotwelsche, wurde nachweislich in über 30 Ausgaben nachgedruckt.

In der Einleitung schreibt der Autor: »Hauptquelle allen Wissens über Rotwelsch war mein Onkel Günter. Er wohnte in München, in einer großen Schwabinger Altbauwohnung, in der mitten im Flur eine Schaukel hing. Die Wohnung wies noch Spuren jener Zeit auf, in der mein Onkel und mein Vater dort in den Sechzigern in eine Art WG gelebt hatten. Es muss ein einziges Kommen und Gehen gewesen sein, nie war klar, wer dort richtig wohnte ob nur für eine Nacht oder einen Monat, Bart tragende Schriftsteller, Grafikdesigner und Gewohnheitstrinker in Cordhose und bunt kariertem Hemd.

Zum Zeitpunkt meiner Geburt wohnten nur noch Onkel Günter und seine Familie dort. Am interessantesten fand ich, neben der Schaukel, das Arbeitszimmer meines Onkels. Allerlei Musikinstrumente hingen an de Wand, Lauten, alte Violinen und Bratschen, hohe Bücherregale waren vollgestopft mit merkwürdigen Nachschlagewerken und Druckschriften. Hauptattraktion war ein von ihm konstruiertes Gestell mit Glasplatte, auf die er Bücher legte, die er dann im liegen lesen konnte. Ich sehe ihn noch heute, wie er mit seinem roten Rauschebart auf der Couch liegt und seine Erfindung vorführt. Immer war süßer Tabakgeruch im Zimmer, vielleicht wegen der Wasserpfeife, die auf einem Buchregal stand, dazu der Geruch vom Pfeifentabak und Zigarillos, die mein Vater gern rauchte.

In diesem Zimmer fanden sich ungewöhnliche Wörterbücher und Obskure linguistische Abhandlungen, alte Bücher, die abweisend und zugleich verlockend aussahen. Ihnen verdankte mein Onkel seine Rotwelsch-Kenntnisse. Es war ein mysteriöser Ort, die Quelle all dessen, was an unserer Familie so besonders war, und ihrer eigentümlichen Beziehungen zu den Fahrenden, die ziellos durch die Welt zogen.«

Über Onkel Günter findet Martin Puchner Zugang zur Sprache der Vagabunden und lüftet die Geheimnissen der Familie, damit auch zur NSDAP, KZ und der Befreiung durch die Rote Armee.
khw


MARTIN PUCHNER: Die Sprache der Vagabunden

Siedler Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe, München2021
284 Seiten - zahlreiche Fotos und Illustrationen - 24,00 EUR