28.10.2020
Dr. med. Umes Arunagirinathan: DER VERLORENE PATIENT
Wie uns das Geschäft mit der Gesundheit krank macht

Der Arzt, Dr. med. Umes Arunagirinathan wurde 1978 auf Sri Lanka geboren um kam als 13-jähriger unbegleiteter Flüchtling in die Bundesrepublik. In Lübeck studierte er Medizin, wurde an der Universität Hamburg promoviert, war Assistenzarzt am UKE Hamburg, arbeitete als Facharzt für Herzchirurgie an der Charité in Berlin, heute ist er Oberarzt am Klinikum Links der Weser in Bremen tätig.

Der Autor schreibt: »Krankenhäuser und Praxen haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr zu Wirtschaftsunternehmen entwickelt - zum Nachteil der Patienten und des Personals. Das System ist strikt auf Gewinn ausgerichtet, gleichzeitig ist eine enorme Verschwendung an menschlichen und materiellen Ressourcen zu beobachten. Überversorgung und Mangel sind die beiden Seiten einer Medaille.«

Nun hat die Corona-Pandemie wie unter einem Brennglas gezeigt: Einerseits haben wir ein enorm leistungsfähiges andererseits schlecht organisiertes und unterfinanziert Krankenhaussystem. Hier nun schlägt Dr. med. Umes Arunagirinathan Alarm. Für den Herzchirurgen steht im Mittelpunkt seiner Arbeit das Wohl der Patienten und nicht der Profit und bekennt: »In diesem Sinne habe ich hohe Ansprüche an mich und an das System, in dem ich arbeite. Doch die Praxis ist enttäuschend. Oftmals kommen wir Krankenhausärzte uns vor wie Arbeiter in einer Fabrik. In langen Schichten und an schier endlos laufenden Fließbändern kümmern wir uns um - ja, worum eigentlich? Um Organe und Körperglieder, um Fallpauschalen, die Belegung von Betten und OP-Tischen, das Ausfüllen von Formularen, die diagnostische Abklärung, die Dokumentation von Dingen, die wir gemacht oder aus bestimmten Gründen abgelehnt haben etc. Und dazwischen quetschen wir den Kontakt zum Patienten, zu Angehörigen, zu den sogenannten Zuweisenden, also den Ärzten, die ihre Patienten zu uns schicken, zum Chef, zu den Kollegen, den Schwestern, den Pflegern usw. Mir fehlt - mit den Jahren immer stärker - das, was eigentlich das Wesen der Medizin und der Heilung ausmacht: die Fürsorge für den Menschen. Für genau den Menschen, der vor mir sitzt oder liegt. Es ist der Mensch, den ich als Herzchirurg über seine Chancen und die Risiken eines großen Eingriffs aufklären soll, der verstehen will, was mit ihm geschieht, der existenzielle Fragen hat, die kaum zu beantworten sind, dem ich seine Angst nehmen möchte. Auch die Angehörigen will ich einbeziehen. Sie tragen wesentlich zum Erfolg einer Behandlung bei.

Um eine solche Fürsorge aufzubringen, muss ich diesen Menschen kennen, ihn einschätzen können. Denn die Laborwerte sagen niemals die ganze Wahrheit. Ob ein Patient eine große Behandlung überstehen kann, ob es ihm danach besser geht - das hängt noch von ganz anderen Faktoren ab, als von den gemessenen Werten. Es kommt entscheidend auf ihn und seine Compliance an, wie wir Mediziner sagen. Hat er einen starken Willen, schätzt er die Situation richtig ein, besitzt er genügend Durchhaltevermögen, kann er Verantwortung für sich und seine Situation nach der OP übernehmen? Das sind die Fragen, die ich klären muss, sodass wir dann gemeinsam zu einer Entscheidung gelangen können.

Diese Zeit haben wir meist nicht, weil wir in einem enormen Tempo arbeiten müssen. Und es braucht vor allem Freiheit. Die Freiheit, rein nach gesundheitlichen, individuellen medizinischen Erwägungen zu entscheiden. Es braucht Freiheit, um wirtschaftliche Aspekte ausblenden zu können. Also nicht zu einer OP raten zu müssen.«

So versucht Dr. Umes Arunagirinathan über das Gesundheitsgeschäft von heute aufzuklären. Empfehlenswert.
khw


Dr. med. Umes Arunagrinathan: DER VERLORENE PATIENT
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