10.12.2019
Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmidt: ‒ Die Schweizer KZ-Häftlinge
Vergessene Opfer des Dritten Reichs

Ich kannte bis Dato nur einen Schweizer Bürger, der von den Nazis ins Konzentrationslager verbracht wurde: der Fotograf, Schauspieler und Filmregisseur Bernhard Wicki. Als Wicki am 5. Januar 2000 in München starb, erinnerte das Magazin «Der Spiegel» in seinem Nachruf nicht daran, dass er, mit 13 Jahren Mitglied kommunistischen Gruppe innerhalb der Bündischen Jugend 1939 für mehrere Monate im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert war.

Die Idee zu diesem Buch geht auf einen Besuch der Autoren des Konzentrationslagers Buchenwald zurück. Wer das Lager betritt, stößt auf dem ehemaligen Appellplatz sofort auf eine Gedenktafel, die erinnert an die Nationalitäten der Häftlinge, die hier gequält und ermordet wurden. Zwischen «Schweden» und «Senegalesen» steht da: «Schweizer».

Schweizer im Konzentrationslager war für die Autoren damals völlig neu. Sie sprachen mit Kolleginnen, Freunden und Bekannten darüber, kaum einer wusste, dass während der NS-Diktatur auch Schweizer in den Konzentrationslagern inhaftiert waren. So gehören die Schweizer KZ-Häftlinge mit zu den vergessenen Opfern des Dritten Reichs.

Im Jahr 2015 begannen die Autoren mit ihrer Spurensuche. Es gab auch keine Vorstellung davon, wie viele Schweizer es als KZ-Häftlinge gab. Inzwischen wurde bekannt, dass mindestens 391 in einem KZ in Haft waren, die zu einem früheren Zeitpunkt Schweizer Staatsbürgerinnen oder Staatsbürger waren. Mindestens weitere 328 KZ-Häftlinge, die in der Schweiz geboren wurden, aber nie die Schweizer Staatsbürgerschaft besaßen.

Ihre Recherchen begannen die Autoren im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern. Später wurden die Archive des International Tracing Service im Hessischen Bad Arolsen, das Politische Archiv des Auswärtigen Amts in Berlin, auch in die Archive der Gedenkstätten in Ravensbrück und Mauthausen einbezogen.

Nun ist 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das erste Mal die Geschichte der Schweizer KZ-Häftlinge aufgearbeitet. Im Vorwort des Bandes heißt es: «Dieses Buch erzählt von Menschen, die andere verachteten und in Konzentrationslagern töteten. Es erzählt aber auch von Menschen, die mutig waren. Von Menschen, die verzweifelten. und von Menschen, die handelten oder wegschauten, die Entscheidungen treffen mussten: Sollte beispielsweise das Eidgenössische Politische Departement dem NS-Regime mit Gegenmaßnahmen drohen, um KZ-Häftlinge freizubekommen? Oder war das eine gefährliche Provokation? Und versuchen, den Opfern ein Gesicht und eine Stimme zu geben.»

Zu Beginn ihrer Arbeit stellten die Autoren fest, das große Forschungslücke bestehen. Es lagen nur einige wenige Studien zu Einzelschicksalen und zur Wiedergutmachung nach dem Krieg vor. Auch fehlte eine Liste der Opfer. Das Buch trägt dazu bei, diese Lücke zu schließen.

Hilfreich bei ihrer Spurensuche war der Kontakt zum Pensionierten Walliser Briefträger Laurent Favre, der bereits ab 1972 Informationen über Schweizer KZ-Häftlinge sammelte. Favre traf persönlich neun Überlebende, hatte Kontakt mit rund 100 KZ-Häftlingen. Die Arbeit von Laurent Favres Spurensuche ist Teil des Buches, vor allem aber die Liste der Opfer.

Selber konnten die Autoren Spörri, Staubli und Tuchschmid mit keinem Schweizer Überlebenden mehr sprechen. Auch Helene Spierer, sie wohnte in Genf, war wohl die letzten Schweizer KZ-Überlebende, starb am 8. Februar 2019. Erst nach ihrem Tod erfuhren die Autoren von ihr.

Das Buch besteht aus drei Teilen: Der erste Teil beschreibt die historische Entwicklung der Lager, schildert die Verhaftungen und Deportationen von Schweizer Bürgern sowie die Reaktionen der Schweizer Behörden darauf. Die Erkenntnisse: Die Schweiz hätte viel mehr für die KZ-Häftlinge tun können, als sie tat. War es Angst, das NS-Regime zu verärgern? Oder aus einem mangelnden Interesse an den Opfern.

Im zweiten Teil werden zehn Schweizerinnen und Schweizer porträtiert, die in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Unterschiedliche Menschen, die Opfer des NS-Terrors wurden, darunter eine aus Frankreich deportierte Jüdin, ein Zürcher Sozialdemokrat, eine Schweizer Bauernfamilie in der Steiermark und eine Resistance-Kämpferin aus Paris.

Im dritten Teil ist die Liste der Schweizer KZ-Häftlinge veröffentlicht. Was es in anderen Ländern seit langen Jahren gibt, das ist für die Schweiz ein Novum.

Mit ihrem Buch geben die Autoren den vergessenen Opfern eine Würdigung.
khw


Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid:
Die Schweizer KZ-Häftlinge - Vergessene Opfer des Dritten Reichs

Verlag NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel/CH 2019
318 Seiten - zahlreiche sw-Fotos - 48,00 EUR