06.09.2019
Benjamin Ziemann: Martin Niemöller - Ein Leben in Opposition

Nun liegt eine Biografie über den streitbaren Pfarrer Martin Niemöller, am 14. Januar 1882 geboren in Lippstadt, gestorben am 6. März 1984 in Wiesbaden, vor. Geschrieben wurde der Band vom Historiker Benjamin Ziemann, der mit einer Studie über ländliche Kriegserfahrungen in Bayern 1914 - 1923 promovierte. Seit Oktober 2018 ist er Mitherausgeber der «Zeitschrift für Geschichtswissenschaft», seine Schwerpunkte sind die Friedensforschung, Militärgeschichte und Theorie der Geschichte.

Der Band ist faktenreich, zeigt und klärt auf, auch warum es bei Niemöller die zahlreihen Widersprüche gab. Der wichtigste Grund für Niemöllers anhaltenden Widerspruch gegen die mit dem Grundgesetz geschaffene repräsentative Demokratie lag allerdings in seinem Verständnis vom politischen Auftrag der Kirche, der bestand für ihn darin, das prophetische Wächteramt wahrzunehmen, und das hieß, innerhalb einer im Kern pluralistischen Kirche die «einzige Kraft zur Durchsetzung einer neuen strikten Bindung an Wort und Bekenntnis darzustellen». Dieses Amt stand nach seiner Ansicht der Bruderräte als den wahren Vertretern der Bekennenden Kirche zu. Überdies galt es aber, dieses »Wächteramt« der Kirche »gegenüber Staat und Gesellschaft« auszuüben, und diese Aufgabe wies Niemöller vor allem sich selbst zu. Dementsprechend war er weder bereit, die Einwände seiner kirchlichen Weggefährten angemessen zu würdigen, noch Widerspruch gegen die politischen Positionen zu dulden, die er selbst vertrat. Dass diese Positionen sich über die Jahre hinweg verschoben, spielte dabei keine Rolle. Die moralische Selbstgerechtigkeit, die sich in Niemöllers Vorstellung vom prophetischen Wächteramt und der damit verbundenen Geringschätzung der Berufspolitiker zeigte, veranlasste selbst einen engen Freund wie Gustav Heinemann zu äußerst kritischen Stellungnahmen.

In der Rückschau auf sein Leben konstruierte Niemöller eine fromme Legende. Seit frühester Kindheit habe ihn die Frage bewegt: »Was würde Jesus dazu sagen?» Doch als Begründungsformel einer biographischen Kontinuität ist diese Sentenz gänzlich ungeeignet. Denn Niemöllers Lebensweg zeigt überaus deutlich, mit welch schillernden und oft widersprüchlichen Aussagen und Verhaltensweisen ein und dieselbe Person den evangelischen Glauben zum Ausdruck bringen kann.

Niemöller berief sich in den unterschiedlichsten Situationen auf Gott,
• 1914, als er die Nächstenliebe allein auf das deutsche Volk bezog und möglichst viele Engländer, Franzosen
            und Amerikaner sowie anderes »Lumpenpack« tot sehen wollte
• 1920, als er Mitglied im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund wurde und dessen rassistischen
            Antisemitismus vertrat
• 1933, als er seiner Hoffnung auf die Realisierung einer NS-Volksgemeinschaft Ausdruck gab
• 1934, als er in Barmen die Theologische Erklärung mit verabschiedete
• 1944, als er Gottes Hilfe gegen die »bolschewistische Woge« anrief, die sein deutsches »Vaterland« bedrohe
• 1945, als er die Amerikaner bezichtigte, das deutsche Volk ausrotten zu wollen
• 1952, als er den christlichen Pazifismus zu seiner Maxime erhob
• 1965, als er öffentlich zu einem Boykott der Bundestagswahl aufrief.
Soweit Benjamin Ziemann. Nach 1984 wurde der verstorbene Martin Niemöller von einer Persönlichkeit der Zeitgeschichte zu einer Ikone der Erinnerung.

Dabei gab es bei Martin Niemöller nach seinem Abitur nicht den Berufswunsch Pfarrer, dass obwohl er aus einer Pfarrer-Familie kam. Sein Weg beginnt mit einer Offizierslaufbahn bei der Kaiserlichen Marine. Im Ersten Weltkrieg U-Boot Kommandant, verlässt er nach Kriegsende 1918 die Marine, lehnt die neue demokratische Regierung ab, beginnt in Münster ein Evangelisches Theologiestudium. Hin und wieder bei einem Freikorps, wählt seit 1924 die NSDAP. In Berlin-Dahlem ist Niemöller seit 1931 Pfarrer, begrüßt er 1933 den «Führerstaat», scheut als Nationalsozialist nicht, Unrecht zu benennen, attackiert die NS-Kirchenpolitik. Am 1. Juli 1937 wird Niemöller erneut verhaftet, 40 Verfahren sind gegen ihn anhängig. Am 7. Februar 1938 beginnt der Prozess vor dem
Sondergericht in Berlin-Moabit, das ihn zu sieben Monaten Haft verurteilt, die durch seine Untersuchungshaft verbüßt ist. Trotzdem kommt er nicht frei, wird von der Gestapo als „persönlicher Gefangener“ Adolf Hitlers ins KZ Sachsenhausen gebracht. Eine geplante Hinrichtung kann der britische Lordbischof Bell abwenden, in dem er von London die Presse informiert. Bei Kriegsausbruch richtet Niemöller ein Gesuch an Hitler, er will wie im Ersten Weltkrieg wieder als U-Boot-Kommandant Dienst tun. Hitler lehnt ab. 1941 kommt er ins KZ Dachau. Vor Kriegsende 1945 wird Niemöller gemeinsam mit anderen Sonderhäftlingen von Dachau nach Niederdorf in Südtirol gebracht, wo ihn am 30. April 1945 die Wehrmacht aus den Händen der SS befreit. Erst nach dem 15. Juni 1945, nach seinem Hungerstreik in Italien, kehrt er nach Deutschland zurück.

Nach 1945 wurde Niemöller aus Saulus ein Paulus: kritisiert die Wiederbewaffnung, vertritt radikal pazifistische Positionen, wird zum Präsidenten der Deutschen Friedensgesellschaft gewählt, nimmt 1979 als Juror am «Dritten Russell-Tribunal» teil. Wahrlich das Leben von Martin Niemöller - ein Leben in Opposition.
khw


Benjamin Ziemann: Martin Niemöller
Ein Leben in Opposition

DVA in der Verlagsgruppe Random House, München 2019
635 Seiten - zahlreiche sw-Fotos - 39,00 EUR